Der Schluss des zweiten Aktes der Götterdämmerung verblüfft den Zuschauer mit einer zugleich offensichtlichen wie unpassenden Anspielung auf den Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein. Wie am Ende des ersten Aktes von Siegfried erscheint Patric Seibert im Brautschleier (siehe auch Bär im Siegfried). Einen Kinderwagen von der Höhe der Haupttreppe des Bühnenbilds schiebend, schafft er es kaum… der Kartoffeln Herr zu werden, die herunterfallen und sich auf dem Boden verteilen. Doch isst er sie begierig auf, beißt hinein wie in einen Apfel.

Bei Eisenstein wird der ausdrückliche Bezug auf den „Kindermord des Herodes“ durch die zaristischen Offiziere von einer nervösen und zweifelsohne wirkungsvollen Montage begleitet, die sich dem Zuschauer vom ersten Moment an ins Gedächtnis brennt. Bei Castorf bezieht sich der Kinderwagen, jenseits von Ironie und Überraschung, explizit auf diese Szene des Films, die auf die einzige Massenszene des Rings folgt – jene Szene der Manipulation seiner Genossen durch Hagen, die aber auch Szene von Protesten ist (die angeschlagenen „Hunger“-Parolen), die das in Sektoren geteilte Berlin der Nachkriegszeit wachrufen. Der Ort des Geschehens, der Laden Obst und Gemüse, stellt die Verbindung her.

Der zweite Akt, der die Heirat von Brünnhilde mit Gunther sowie von Siegfried mit Gutrune feiert, zerreißt die Versprechungen und rühmt Lüge und Vergessen : er schließt mit dem Projekt des Mordes an Siegfried, „dem Unschuldigen“ im eigentlichen Sinne, der seine eigene Liebesgeschichte vergessen hat und ohne es zu wissen all seine Schwüre verrät. Man kann im Ersetzen von Eisensteins Baby mit Kartoffeln eine Anspielung auf das Scheitern der Projekte Paar und Mutterschaft von Brünnhilde sehen. In der ersten Szene der Götterdämmerung ersetzt die Puppe, die sie Siegfried gibt, die Weitergabe der Runen. Schlicht sterblich geworden, interessiert sie die Sorge um die Nachkommenschaft mehr als die Lehre ziemlich lästiger Gesetze. Vergebene Liebesmüh. Siegfried kann mit dem Kinderwunsch nichts anfangen und sucht nach Wegen, dem zu eng gewordenen Haushalt zu entfliehen.

Gleichermaßen sind die Kartoffeln im Kinderwagen das Symbol Siegfrieds, der zugleich Krimineller und Opfer ist. An die Stelle des Helden tritt das herkömmlichste Gemüse, die Kartoffel, Königsgemüse, Symbolgemüse in einem Deutschland, das gerade wieder aus der Asche erstanden ist, und einer zerrissenen Stadt Berlin, Opfer der Blockade von 1948 bis 1949, worauf die Szene anspielen könnte.
Eine Anspielung auf die Blockade und die Spannungen in jenem Nachkriegsdeutschland taucht auch in der Massenszene im zweiten Akt auf, wenn ein Teil der Mannen Hagens sich vom allgemeinen Enthusiasmus absetzt und Plakate mit den Worten „Hunger!“ und „Krise!“ an die Wände klebt. In der ersten Szene des Siegfried kippt Mime Unmengen Zucker in seinen Ersatzkaffee, um ihn genießbar zu machen… 1948 hatten amerikanische Flugzeuge säckeweise Grundnahrungsmittel, darunter Kartoffeln, vom Himmel über Berlin gebracht. Die Bevölkerung nannte die Flugzeuge, die diesen „Geschenke“-Regen brachten, Rosinenbomber („Candy Bombers“ für die amerikanischen Piloten). Die Luftbrücke war eingerichtet worden, um den Westsektor Berlins wiederzubeleben. Verließen die Flieger ihren Korridor, wurden sie von den Sowjets abgeschossen. Nach jeder Landung bewaffneten sich die Berliner mit Schaufeln und Schubkarren und beeilten sich, die Piste wieder in brauchbaren Zustand zu versetzen. Diese Hast und Gefahr finden wir in Eisensteins Szene wieder.
Kartoffeln als gewendetes Symbol der goldenen Äpfel der Freia (von denen in gleicher Weise abgebissen wird), die dem Gott Walhallas Unsterblichkeit sichern, werden hier zu den Kartoffeln der Deutschen, denen es an allem fehlt, ganz so wie die Banane späterer Jahre eine DDR symbolisiert, der es an der deutschen Lieblingsfrucht mangelte. Eine Frucht und ein Gemüse („Obst und Gemüse“) dienen also als Bindeglied – die große Geschichte begegnet vermittelt über Mangel und Symbole dem Volk.

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