2013 sprach man nur von ihnen. Gleichermaßen ausgebuht wie mit Applaus bedacht, verursachten sie beim Publikum Empörung und Unverständnis. Drei Jahre später, obgleich bereits Teil der güldenen Legende Bayreuths… provozieren sie weiterhin Buhrufe. Zu allem Überfluss haben sie seither Nachwuchs bekommen (ein Kleines pro Jahr), so dass nun eine ganze Krokodil-Familie beim Liebesduett von Siegfried-Brünnhilde den Alexanderplatz erkundet. Diese geheimnisvoll gepanzerte Metapher verdient offensichtlich eine Erklärung… vielleicht sogar mehrere.

Der erste Schlüssel findet sich in einer sehr kurzen und sehr verkannten Erzählung von Fjodor Dostojewskij : Das Krokodil (Krokodil, auf russisch Крокодил, lautete im Übrigen der Name einer sowjetischen Satirezeitschrift, die nach dem Zerfall der UdSSR verschwand und 2005 wieder auftauchte). Im Jahre 1865 veröffentlicht, schildert die fantastische und humorvolle Novelle eine Situation, die man ihrer Zeit vorausgreifend als surrealistisch bezeichnen könnte. In einer Einkaufspassage stellt ein Deutscher zum ersten Mal in Russland ein enormes lebendiges Krokodil aus, das die Besucher verblüfft. Unter ihnen findet sich ein Händlerpaar, Iwan Matwejewitsch und seine charmante Gattin Jelena Iwanowa. Warnungen zum Trotz neckt Iwan Matwejewitsch das Krokodil, das ihn daraufhin in Gänze verschlingt. Doch wider Erwarten ist das vom Krokodil verschlungene Opfer noch immer am Leben ! Der Eigentümer weigert sich, das Tier zu töten und sieht darin sogar einen Vorwand, den Eintrittspreis zu erhöhen. Ein eilig herbeigerufener russischer Beamter bekräftigt die Ansicht des Deutschen : „Ein Attentat auf das Krokodil wäre ein schlechtes Signal und würde die ausländischen Investitionen in Russland stören“. Iwan Matwejewitsch wird gar als „wahrer Sohn des Vaterlands“ betrachtet, da er den Wert des Krokodils verdoppelt, wenn nicht verdreifacht habe. Ein zweites Krokodil wird ausgeladen, gefolgt von einem dritten, dem weitere folgen, indes dieser Zustrom von Fremdkapital mit großem Bohei gefeiert wird. Iwan Matwejewitsch ist mit der Situation aufs Äußerste zufrieden und labt sich mit Genuss an der unerwarteten Bekanntheit.

Diese Satire nach Art eines Nikolai Gogol verweist in ihrer Absurdität auf die verheerenden Folgen von kleinbürgerlichem Geist und Kapitalismus, die aus dem Westen nach Russland importiert wurden. Ein antizipiertes Bild des Umbruchs im Osten in einem liberalen System, das als Operetten-Monster oder Grand Guignol Stück wahrgenommen wird ? Hinter der offensichtlichen Komik der Situation zeichnet sich indirekt die harte Wirklichkeit einer Welt ab, die unter dem Zwang der Anpassung an die Konsumgesellschaft steht. Mehrere Blickwinkel sind möglich, angefangen beim sexuellen, politischen ((Das Krokodil ruft das politische Tier in Erinnerung, das Nanni Moretti in seinem Film „il caimano“ (2006) beschreibt)) und ökonomischen Verschlingen : Das Krokodil verschlingt den „Vogel“; die Versprochene gibt sich als williges Opfers dem Helden/Neffen hin, was die Form raubtierhaften und gewalttätigen Wahns annimmt :

Siegfried ! Siegfried !
Siehst du mich nicht ?
Wie mein Blick dich verzehrt,
erblindest du nicht ?
Wie mein Arm dich presst,
entbrennst du mir nicht ?
Wie in Strömen mein Blut
entgegen dir stürmt,
das wilde Feuer,
fühlst du es nicht ?
Fürchtest du, Siegfried,
fürchtest du nicht
das wild wütende Weib ?

(Sie umfasst ihn heftig)

 

Eine andere Möglichkeit : Das Krokodil als metaphorische Abwandlung des Themas jener Angst, die Siegfried der Drachentöter nicht kennt. In Form eines zudringlichen Reptils, das der Held mit Fußtritten und Apfelwürfen verjagt, um seinen Flirt fortzusetzen und dem die entnervte Brünnhilde einen Sonnenschirm zum Fraß vorwirft, wird die Gefahr lächerlich gemacht. Ebenso kann man im Castorf'schen Krokodil ein Echo des Drachen Fafner sehen, der im zweiten Akt getötet werden wird. Als das Reptil zum ersten Mal auftaucht, ist die Anspielung an den Drachen Fafner in Fritz Langs Nibelungen unmöglich zu übersehen.

Das geübte Auge wird schließlich die Anwesenheit eines als Drachen verkleideten Krokodils im bizarren Film „Teenage caveman“ bemerken, dessen ausführliche Beschreibung Sie im Artikel „Trashfilme“ erwartet.

 

Zweiter Schlüssel : Das Hereinplatzen der Krokodile könnte ebenso eine Anspielung auf das Ballett Die Keuschheitslegende von Pina Bausch sein. Die 1979 an der Wuppertaler Oper gegebene Vorstellung blieb der Nachwelt dank einer Fotoserie von Helmut Newton in Erinnerung, die ein Frauen vernaschendes Krokodil zeigt.

Pina Bausch und Rolf Borzik verbanden mit den auf den Boden der Bühne gemalten Ozeanwellen die Vorstellung, ein „Meer der Leidenschaft“ zu schaffen, in welchem die Tanzpaare umherdriften. Die Choreographie störend durchstreifen riesige Krokodile den Bühnenraum, um auf poetische Weise Erotik und Sexualität als latente und akute Gefahren zu bezeichnen…

Die reptilienhafte Anspielung auf die Sexualität als Angst und Bedrohung hatte auch Patrice Caurier und Moshe Leiser in ihrer Inszenierung von Händels Giulio Cesare 2012 in Salzburg inspiriert, wie auch Herbert Wernickes Interpretation der gleichen Oper einige Jahre zuvor am Liceu. Als sie von der Hinrichtung ihres Ehemannes erfährt, endet Cornelias Totenklage Priva son d'ogni conforto im Rachen des Krokodils, Zeichen der Verzweiflung und der Unterwerfung unter Tolomeo, das sexuelle Raubtier und Mörder Pompeos.

Kehren wir zu den Reptilien Castorfs zurück, deren unterschwelliges Auftauchen den peniblen und aufmerksamen Zuschauer zweimal beglückt. Als Wotan sich in den Wanderer verwandelt und bei seinem Auftritt im ersten Akt des Siegfried Mime ausfragt, hält er in seinen Händen zwei… Krokodilklemmen, die er an die rote Campinggasflasche anzuschließen droht, um diese zur Explosion zu bringen((Zeichen der drohenden Revolution ? Als der Wanderer von der Bühne geht, lässt er eine Gasflasche mitgehen, von der man sich vorstellen kann, dass die zum Niederbrennen Walhallas dienen wird.)) . Das Bild verweist auf die Eingangsszene des Rheingold, wo die Rheintöchter (in Wotans Auftrag, vergessen wir das nicht) Alberich ärgern, indem sie seine Finger mit Wäscheklammern traktieren, entfernte Vorahnung der fleischfressenden Reptilien, die auf dem Alexanderplatz herumirren.

Ein letzter Schlüssel schließlich könnte aus einer urbanen Legende stammen, die ein zu Späßen aufgelegter Verwandter dem kleinen Castorf erzählt haben mag, um ihm Angst einzujagen. Im Zweiten Weltkrieg war ein großer Teil des Berliner Zoos durch die alliierten Luftangriffe zerstört worden. Von den insgesamt 3715 Tieren überlebten nur 91, darunter mehrere Krokodile, die in den Kanälen und U‑Bahn-Tunneln Zuflucht fanden… bereit alle jungen zukünftigen Regisseure zu verspeisen. Die Anekdote, sei sie nun wahr oder falsch, war vielleicht Jahrzehnte unterwegs, bevor sie auf dem Grünen Hügel und in der Mythologie Wagners einen ehrenvollen Platz fand.

 

 

 

 

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