Die in der Walküre auftretende Brünnhilde ist der rote Faden von Wagners Ring. Vom anfänglichen „Hojotoho“ des zweiten Aktes zum abschließenden Scheiterhaufen der Götterdämmerung teilt sie sich mit Wotan die Rolle der emblematischen Gestalt des Rings. Zugleich Opfer ihrer Treue zum väterlichen Willen wie Ursache der Ermordung Siegfrieds durch Hagen, ist sie eine der Gestalten des Rings, die die stärksten Emotionen hervorruft.

Bei Castorf ist Brünnhilde permanent Opfer, hin und her geworfen von den Ereignissen. Siegmund, Sieglinde und Siegfried : Sie alle werden im ein oder anderen Moment von Wotan manipuliert, Brünnhilde aber hat über ihr Schicksal entschieden, als sie Wotan vorschlägt, von Siegfried wieder erweckt zu werden, und indirekt mit der Entscheidung, sich auf Gedeih und Verderb an Siegfrieds Schicksal zu binden.

Ebenso wie Siegfried eine von Castorf sehr eindeutig gezeichnete Gestalt ist, sie ist ihm Produkt der von Mime genährten marxistischen Ideologie, so ist Brünnhilde die traditionellste Gestalt in diesem außergewöhnlichen Ring. Jedenfalls scheint es zwischen der Brünnhilde Castorfs und der anderer Regisseure, selbst der konformistischsten, keine großen Unterschiede zu geben. Aber sehen wir uns das genauer an…

In der Walküre ist Brünnhilde vor allem liebevolle Tochter. Hose, Gehrock und Weste sind das vage maskuline Kostüm einer agilen Brünnhilde, die so sehr im Dienste von Wotans Sache steht, dass sie sorgfältig jene Nitroglycerinflaschen abfüllt, die dazu dienen werden, die Ölfelder Bakus in die Luft zu jagen – während ihr Wotan, von Fricka gezwungen, die Geschichte des Rings und der Zwillinge Siegmund und Sieglinde erzählt. Nahezu geistesabwesend hört sie ohne zuzuhören, so sehr ist sie mit ihrer Aufgabe beschäftigt. Üblicherweise folgsam und dem Vater gefügig, ergreift sie im Sinne dessen, was Blaise Pascal „Willensrichtung“ nannte, schließlich Partei für die Zwillinge : Wotan ordnet an was ihr Wille verweigert.

Im dritten Akt ist sie kriegerische Jungfrau in männlicher Robe ; mit silbernem Irokesen-Helm nach Art der Punks, in Pelzmantel, protzigem Kleid und Latexbustier erscheint sie auf der Bühne. Sie ist ganz und gar nicht Frau unter Frauen in dieser seltsamen Truppe von Walküren, die in erster Linie Frauen der verschiedenen „Stämme“ und russischen Familien aus allen Territorien der UdSSR sind. Die ohne Unterlass Kostüme wechseln, was an die pausenlosen Verwandlungen im Varieté erinnert (bereits hier die Andeutungen) – und aus dem berühmten Ritt eine „Nummer“ machen (was er für die Zuschauer häufig ist). Man spürt, dass Brünnhilde mit ihrem Pelzmantel und ihrem Silberhelm der Star der kleinen Truppe ist.

Castorf braucht eine „gewöhnliche“ Brünnhilde für die außergewöhnliche Geschichte, die er erzählt, eine Brünnhilde, die zugleich Zeugin und Opfer der Geschichten ist, die sowohl Wagner als auch Castorf erzählen.

Im Siegfried erwacht sie eingewickelt in eine Plastikfolie, mit der sie sich während des Duetts bedeckt, am Fuße des Wohnwagens (2016)((Von 2013 bis 2015 sah man anstelle des Wohnwagens einen Haufen Hirschgeweihe, gleich Ergebnissen einer wunderbaren Jagd, von denen 2016 nur eines übrig ist, das dazu dient, das Plastik-Leichentuch zu entfernen und Brünnhildes Rüstung zu öffnen – an Stelle von Notung, den Castorf ins Magazin für unnütze Assessoires verbannt.)), in dem zunächst Alberich und Mime unterkommen, dann Mime und Siegfried, und welcher das (traute?) Heim des Paares werden wird.

Der Wohnwagen ist ein Emblem, das mit der Welt von Alberich und Mime verbunden ist, mit der verfluchten Liebe, und der Zeuge der gewalttätigsten Szene sein wird, wenn Siegfried in der Gestalt Gunthers Brünnhilde entführt.

 

Im Siegfried stellt sie ihr Ex-Walküren-Kleid und ihr Latex-Bustier zur Schau, doch von Pelzmantel und glänzendem Helm keine Spur… ein Kleid, das sie bald zugunsten eines lächerlichen Brautkleids aufgeben wird((Bleibt zu bemerken, dass sie sich dort anziehen wird, wo sich Erda bereits angezogen hat, wie um die Bühne vor der Szene mit Wotan zu betreten, die den dritten Akt eröffnet : anderes Duett, andere „Szene“, anderes Kostüm. Brünnhilde ist eine „Repräsentation“ der verheirateten Frau, wie Erda die Mätresse oder Ex-Mätresse Wotans „repräsentiert“. Unmöglich, nicht die Parallele zwischen der Frau Brünnhilde und der Göttin Erda zu ziehen : den Menschen die Liebe, den Göttern die Fellatio…)), was in dem Moment geschieht, als Castorf das Duett mit einem Siegfried verspottet, der sich bereits für andere Dinge interessiert. Doch dass Ex-Walküren-Kleid ist emblematisch : Es entspricht nicht notwendig nur kleinbürgerlicher Konvention, sondern ist auch das, was ihr von ihrem Leben in Walhalla bleibt, die Runen, die sie an Siegfried weitergeben will und über die er sich lustig macht. In dieser von Castorf umgedrehten Szene ist Brünnhilde weiter die liebende Frau, die sich einem Siegfried gegenüber sieht, der damit beschäftigt ist, die Krokodile zu füttern. Weit entfernt von ihm singt sie beinahe einen Monolog, Siegfried ist abwesend. Die Generationen ziehen vorüber, aber die Problematik des Paares (hier in Gründung und schon im Debakel) bleibt die gleiche. Es ist schwer zu lieben im Ring.

Und so ist Brünnhilde eben die Liebende und sich Opfernde : Nach einer kurzen Zeit (einer Nacht?) des Glücks läßt sie Siegfried ziehen und wird im Wohnwagen auf seine Rückkehr warten((Zu bemerken ist weiterhin, dass der Wohnwagen Gutrune als Ankleide dient, hier wählt sie ihre Kleider aus und schaut durchs Fenster zu, was sich zwischen Hagen und Alberich ereignet. Ist es der gleiche Wohnwagen ? Ist es ein anderer ? Man könnte denken, dass er mit Brünnhilde vom Felsen des zweiten Aktes zurückgekehrt ist…)) – geschützt durch einen Vorhang (in Feuerfarben gestreift, nicht in Flammen), unter dem ein neckisch hervorlugender Fuß erscheint, gefolgt von Brünnhilde im Hausanzug, die auf einem Campingstuhl auf den heimkehrenden Mann wartet und Zeitschriften liest : ein lächerliches Bild des mythischen Paares. Aber auch Bild von Brünnhildes Schicksal, reduziert auf das Erwarten des geliebten Helden.

So endet das ebenfalls sehr „konforme“ Duett mit Waltraute in der Plünderung des Wohnwagens : durcheinander fliegende Kleider, Stühle, Hocker, Vorhänge. Während Gunther die Szene mit „versteckter Kamera“ betrachtet, erscheint der als Gunther verkleidete Siegfried und macht aus dem Wohnwagen, den er mit einem Schlage schließt, eine Art schreckliches Mausoleum verlorener Illusionen : die Gewalt der Szene, in der Brünnhilde wie ein Objekt gegen das Gefährt geworfen wird, ist schwer zu ertragen, zumal Siegfried nicht wiederzuerkennen ist : Geschorener Kopf, schwarze Sonnenbrille, ganz in schwarz gekleidet – nicht wie Gunther, sondern wie der Wanderer-Wotan der vorigen Szene ! Brünnhildes Ausruf :

"Wotan ! Ergrimmter,
grausamer Gott!"

gewinnt so seinen vollen Sinn. Beinahe ist es Wotan, der sie zerstört…
Also ist es eine andere Brünnhilde, die im zweiten Akt auftreten wird, nicht mehr die Unterworfene, sondern die Revoltierende, nicht mehr die Frau, die auf ihrem Campingstuhl Zeitschriften liest, sondern der Star im Gold-Lamé (!) gewirkten Kleid, unbestrittenes Zentrum der Aufmerksamkeit. Für Brünnhilde, der vielleicht einzigen „moralischen“ Gestalt des Rings, ist der Ring ein Bildungsroman über die „Verbrechen der Liebe“. Sie ignoriert die irdische Liebe, die sie mit Siegfried (samt ihren Grenzen…) kennengelernt hat, und experimentiert mit dem Verrat : Wagner hat jene psychologischen Mechanismen des Verbrechens aus Leidenschaft perfekt herausgearbeitet, die sie dazu bringen, Hagen die Aufgabe anzuvertrauen.

 

Im dritten Akt dieser Dämmerung, dieses Niedergangs, kommt Brünnhilde zu Bewusstsein : sie wird sich genau dann, von den Ereignissen hin und her geworfen, plötzlich der Mechanismen bewusst, die zur Katastrophe geführt haben. Nicht Walhalla will sie in Brand setzen, als sie die Benzinkanister in Wotans zurückgelassenen Mercedes lädt, sondern Wall Street, die real existierende Welt. Brünnhilde verweist auf die Abendröte der Welt, die von den Rheintöchtern mit ihren Feuerzeugen nicht in Brand gesetzt wird. Castorf mag das ausgesetzte, ambivalente Ende, wo man auf ein Ereignis wartet, das nicht eintritt ; Brünnhilde verschwindet, verlässt die Bühne, aber nicht den Scheiterhaufen ; sie geht wie die Diva, die Bühne leer zurück lassend (immer wieder die Anspielungen auf die Revue): Brünnhilde behält ihr goldgewirktes Kleid und wirft den Mantel, der es bedeckte, wutentbrannt weg. Aber eine Geste nimmt unsere Aufmerksamkeit wieder in Beschlag : Sie defiliert vor dem monumentalen Bühnenbild, vergießt alles Benzin und wirft auch die Karten weg, mit denen sie Siegfried beim anfänglichen Duett im ersten Akt eine Patience gelegt hatte (auch Wotan hatte in der Walküre in seinem letzten Duett mit ihr mit Spielkarten hantiert). Vorbei der Schicksalspoker, der aus Brünnhilde ein Opfer machte, sie überlässt den Platz anderen. Sie hat ihr Leben zurückerobert, sie hat verstanden, ist (vielleicht?) bereit für ein Anderswo, ein anderes Mögliches, mit der Rosa Luxemburg des Rings die Revolution umarmend – dort, wo Castorf seine eigene Walhalla errichtet hat, die Volksbühne-am-Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin…

 

LAISSER UN COMMENTAIRE

S'il vous plaît entrez votre commentaire!
S'il vous plaît entrez votre nom ici