Den Ast eines Baumes abbrechen und aus einer Quelle trinken : ein erstaunliches Sakrileg, für das der leichtsinnige Wotan ein Auge lassen muss. Ein grausames Pfand, doch erlaubt ihm der Brunnen des Wissens im Gegenzug die Erkenntnis über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erlangen. Die Episode wird in der isländischen Saga erzählt : Der Hüter besagter Quelle, ein gewisser Mimir, vergewissert sich, dass Wotans (Odins) Auge als Preis für den Erhalt universellen Wissens auf dem Grund der Quelle ruht. In der klassischen Bildersymbolik des Rings trägt Wotan, um dieser fatalen Abwesenheit materielle Form zu verleihen, (links oder rechts) eine enorme Augenbinde. Castorfs Wotan trägt weder im Rheingold noch in der Walküre eine Augenklappe oder ein anderes wahrnehmbares Zeichen. Im Siegfried zum Wanderer geworden, begnügt er sich mit dezenter Wimperntusche entlang der Kontur des Auges – wie Alex, die beunruhigende Hauptfigur in Stanley Kubricks Clockwork Orange (Uhrwerk Orange). Wir werden dieses Detail in Großaufnahme wiedersehen, wenn Waltraute Brünnhilde in der Götterdämmerung inständig bittet, den Ring zurückzugeben. Die riesige Projektion von Wotans Blick auf die beiden Schwestern bereichert die Szene um eine zugleich aufdringliche wie totalitäre Dimension, ist aber auch Ausdruck der Ohnmacht des Gottes der Götter, auf den Ausgang des Dramas wirklich Einfluss zu nehmen.

Parallel dazu beobachten wir das Spiel mit einer Sonnenbrille, die der Gott zweifellos trägt, um in Mimes Beisein inkognito zu bleiben. Ironische Geste oder Zeichen einer Bindehautentzündung ? Während der Wanderer den Fragen des Zwerges zuhört, tröpfelt er sich Augentropfen ins Auge. Der Bezug auf die Quelle und das aus ihr sprudelnde Wasser ist so im Symbol des Auges stets präsent. Es überrascht nicht, diese Anspielung hinter der Trivialität des Details zu finden. In dem Moment, als der Wanderer die Sonnenbrille absetzt und seine Identität preisgibt, zertritt er sie wütend mit dem Absatz und versetzt Mime in Furcht und Schrecken. Genauer betrachtet lässt das Bühnenbild im Siegfried, jener berühmte kommunistische Mount Rushmore, mehrere Anspielungen auf den kostbaren Augapfel erkennen. Da ist zunächst die Seilrolle ganz oben auf dem Gerüst, deren Schatten ganz klar ein großes dunkles Band über das rechte Auge Lenins legt. Sodann, just als der Wanderer auf dem Absatz kehrt macht, taucht Siegfried auf und schlägt auf das rechte Auge Stalins ein. In der Szene der Auseinandersetzung zwischen Siegfried und dem Wanderer, werden die Gesichter der beiden Protagonisten in Großaufnahme auf die Felswand projiziert, schmiegen sich jeweils den Gesichtern von Lenin und Stalin an. Das rechte Auge Stalins ist von einem dunklen Fleck gezeichnet : Sohn und Väterchen des Volkes ? Indirekte Anspielung auf das „Auge Moskaus“, das die Spionage des KGB im Kalten Krieg symbolisiert ? Als Mime dem Siegfried die vermeintlichen Geheimnisse der Herstellung Notungs erklärt, versucht der Bär Patric Seibert, sie mittels eines… Stethoskops zu belauschen, das er an den Regenschirm hält, unter dem sie stehen.

 Die letzte ophthalmologische Anspielung findet sich in jener Episode der Götterdämmerung, in welcher der Ring Brünnhilde gestohlen wird. Plötzlich taucht Siegfried auf, er trägt eine schwarze Brille, die seine wirkliche Identität verbergen soll. Während er die Stimme Gunthers imitiert, um Brünnhilde zu täuschen, sieht man über ihm eine riesige Video-Projektion, die abwechselnd die live gefilmte Szene und das spöttische Gesicht Gunthers zeigt. Die beiden Sequenzen sind mithilfe einer Infrarotkamera aufgenommen, was die Spannung verstärkt, die wärmsten Partien weiss erscheinen lässt.Gunther greift nach der Plastikpuppe, die Brünnhilde in der ersten Szene Siegfried angeboten hatte ; mit einer hinterhältigen und perversen Geste reibt er die Gläser seiner Brille an den Augen der Puppe. Das erschreckende Bild des Folterers und des stummen Leids des Kindes bilden eine Art Kommentar zur Verwüstung von Brünnhildes Kinderwunsch… Ein Ausbruch, vergleichbar der „Geschichte des Auges“, dem erotisch-surrealistischen Auftakt zum „Œil cacodylate" von Francis Picabia oder auch der Szene des gemarterten Auges in Un chien Andalou von Dali-Bunuel…

Schließlich, und dies bezieht sich auf Castorfs Inszenierung von Goethes Faust an der Berliner Volksbühne im März 2017, erinnert ein nebenbei im Bühnenbild sichtbares Plakat des Films „Augen ohne Gesicht“ von Georges Franju stark an Gunther, wie er sich die Augen reibt, wovon oben die Rede war…

 

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