Speer
Wesentliches Attribut des Gottes der Götter. Seinen Ursprung hat Wotans Speer in jenem ausgerissenen Ast der Weltesche. Die Verstümmelung des Baumes, weiter die Verstümmelung und Störung der natürlichen Ordnung, geht mit dem Verderben des Quellwassers einher. Castorf hat seinen Ring rund um die Idee der Beschmutzung durch das Öl entworfen, dem „natürlichen“ Rohstoff, dessen Ausbeutung eine Reihe von Konsequenzen nach sich zieht, die für Menschen und Welt so fatal wie verhängnisvoll sind. Doch kommt diese so wichtige Anfangsszene im Libretto des Rheingold nicht vor, wo sich der Vorhang auf einem E‑Dur Akkord hebt. Der ausgerissene Ast markiert den Verlust des natürlichen Gleichgewichts. Wie ein Liebender den Namen seiner Herzallerliebsten einritzt, oder ein hochmütiger seinen eigenen, so entscheidet sich Wotan die Runen darauf zu schreiben – die nordische Schrift, in der die legendären Sagas verfasst wurden und die jene literarischen Mythen inspirierten, die als Basis von Wagners Ring dienen.
Ein ambivalentes Gesetz : in pflanzlichem Material festgehalten, nachgiebiger als Stein und potentiell brennbar, garantieren ihm die geschriebenen Regeln die Herrschaft über die Welt, zwingen ihn aber zugleich dazu, sie zu respektieren. Wie ein skrupelloser Politiker umgeht Wotan das Gesetz, das er selbst geschrieben hat, und verstrickt sich in seinen eigenen Lügen. Nebenbei bemerkt ähneln die Runen einer schwer dechiffrierbaren verschlüsselten Sprache. Sie erinnern an die Undurchsichtigkeit einer Verwaltungssprache mit ihren häufig in unleserlicher Schrift gedruckten Vertragsklauseln.
Der Speer vereint legislative und exekutive Macht. Castorf macht sich einen Spaß daraus, zu zeigen, wie Siegfried ihn gleich einem unerzogenen Gör rücksichtslos in Stücke bricht. Wotan scheint dagegen zu sein, provoziert aber in Wahrheit Siegfrieds Reaktion und die fatale Geste. Er organisiert diese „Inszenierung“, damit das Gesetz gebrochen und er von seinen Verpflichtungen befreit wird. Noch dazu zerbricht Siegfried den Speer auf dem Gipfel des marxistischen „Mount Rushmore“, wie um Wotan und seine Ordnung herauszufordern, in der Siegfried erzogen wurde. Moseslehrling Wotan „lässt“ die Gesetzestafeln zerstören (und Siegfried zerstört sie, ohne darüber nachzudenken), erklimmt aber nicht nochmals den Sinai, um sie ein zweites Mal zu empfangen. Diese Feigheit deckt sich perfekt mit der Ironie Castorfs, der mit den Effekten spielt, mit denen er die ihrerseits inszenierte Szene abstürzen lässt. Wie die Tyrannei der Erdöl produzierenden Länder, die ihren Einfluss auf die Welt und die Ökonomie zu festigen suchen, möchte Siegfried sein Gesetz durchsetzen. Eine Riesenniederlage mit nicht absehbaren dramatischen Konsequenzen. Wer andern eine Grube gräbt… Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet illustriert dieser starre Stab phallokratische Macht. Im dem Moment, in dem der Held Wotan über den Mund fährt, beraubt er ihn all seiner Macht.
Castorf erinnert zu Recht an die Anwesenheit eines zweiten Speers im Ring : den Speer des Hagen. In der Szene des scheinheiligen Eides, geschworen auf jene Speerspitze, die Siegfried töten wird, nimmt Hagen ironischerweise ein Brett des Palisadenzauns zur Hand, wie um die Absurdität einer Szene aufzuzeigen, die nichts anderes ist als eine Täuschung. Im Moment des Mordes erinnert die Metallstange, nach der Hagen greift, auf befremdende Art an ein Fragment von Wotans zerbrochenem Speer. So steht dem Zuschauer frei, sich die Ermordung Siegfrieds als Umkehrung der Situation vorzustellen. Getötet durch das Werkzeug einer Macht, das er lächerlich zu machen versucht hatte ; indem er es zerbrach, wird Siegfried auf schlimmste Art gestraft.