Castorf
Es brauchte eine gehörige Portion Penetranz der ostdeutschen Verwaltung, den Regisseur Frank Castorf dazu zu bringen, seinen Militärdienst bei den Grenztruppen der DDR zu absolvieren. Man kann sich vorstellen, wie er die freie Zeit dafür nutzte, an seiner Diplomarbeit über Ionesco für die Berliner Humboldt-Universität zu schreiben. Als die Mauer gebaut wurde, war der gebürtige Ost-Berliner zehn Jahre alt. Bevor sich der Sohn eines Eisenwarenhändlers mit zwanzig Jahren dafür entschied Theaterwissenschaft zu studieren, hatte er zunächst eine Laufbahn bei der Deutschen Reichsbahn angestrebt. Er wird Dramaturg am Bergarbeitertheater in Senftenberg, handelt sich einen Verweis ein und wird ans Stadttheater Brandenburg versetzt. 1984 lässt die SED-Kreisleitung seine Inszenierung des Brecht-Stückes Trommeln in der Nacht verbieten, das von der Zerschlagung der spartakistischen Revolution handelt. Eine weitere umstrittene Inszenierung, Nora oder Ein Puppenheim von Ibsen, führte nach Abschluss eines Disziplinarverfahrens zu seiner endgültigen Entlassung. In Folge arbeitete Castorf für das Schauspielhaus von Karl-Marx-Stadt (dem heutigen Chemnitz), das Neue Theater in Halle, am Deutschen Theater sowie an der Berliner Volksbühne (die unterdessen zur Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz geworden ist), deren Intendant er 1992 wurde und die er 2017 inmitten von Polemiken verlässt, in denen sich das deutsche Theater gerne ergeht.
Manche Bühnen Westdeutschlands führten vor dem Fall der Mauer mehrere seiner Inszenierungen auf : Shakespeares Hamlet am Schauspiel Köln oder Miss Sara Sampson von Lessing am Prinzregententheater München. Seine Arbeit wurde durch mehrere renommierte Preise ausgezeichnet, darunter der Fritz-Kortner- oder auch der Schillerpreis. Die Zeitschrift „Theater Heute“ wählte ihn für seine Tätigkeit an der Volksbühne 2002 und 2003 zum „Intendanten des Jahres“.
Die Schauspielerin Jeanne Balibar gab in einem Interview der Zeitung Libération ((http://next.liberation.fr/theatre/2016/09/08/jeanne-balibar-au-coeur-d-une-meute-de-loups-qui-dechirent-la-piece-avec-leurs-dents_1490095)) anlässlich der Aufführung der „Brüder Karamasow“ 2016 eine sehr erhellende Definition der Methode Castorf :
„In Frankreich arbeiten die meisten Regisseure in einigen Wochen am Schreibtisch eine Form aus, horchen gewissermaßen in sich hinein. In Deutschland sucht man die Formen unmittelbar, ohne vorausgehende Lektüre. Vier bis fünf Wochen lang arbeitet Castorf nicht mehr als drei Stunden am Tag. Nach dieser sehr kurzen Zeit, in der man in Frankreich noch im Verborgenen probt, beginnen die öffentlichen Aufführungen. Diese drei Stunden aber erfordern eine ungeheure intellektuelle und sportliche Wendigkeit. Sportlich im wahrsten Sinne des Wortes : Auf der Bühne wird viel gerannt. Castorf ist voll und ganz in seiner Inspiration, in einer Art Trance, und verlangt von uns, dass wir auf der gleichen Wellenlänge sind. Dass wir alle in einen Zustand jenseits unserer selbst eintauchen. Und in der dritten Stunde erklärt er uns, was wir machen werden und verdeutlicht sich selbst, was er herstellen wird. Man muss in diesem letzten Moment sehr aufmerksam sein, sonst kann man die Geste nicht reproduzieren. Es versteht sich von selbst, dass man nicht wirklich weiß, was man tut, wenn man in Trance ist.“
Die Inszenierungen Castorfs unterscheiden sich in so gut wie allen Punkten von dem, was man in einem traditionellen Theater zu sehen bekommt. Sein „postdramatischer“ Ansatz schöpft in der vorbereitenden Arbeit am Stück umfassend alle biographischen und philosophischen Elemente aus, die er bereitwillig in die Aufführung integriert. Das Ergebnis ist gewollt verstörend und bilderstürmerisch, zwischen burleskem Humor und referenzieller Sättigung riskiert er, die Spuren zu verwischen und einen Teil des Publikums zu verunsichern. Der intensive Einsatz von Videokameras erlaubt es Castorf, mehrere Aufnahmen der Bühne live zu übertragen und so die Blickwinkel der Wahrnehmung zu vervielfachen. Diese beabsichtigte Unstetigkeit und Unbequemlichkeit für den Zuschauer stehen im Dienst eines anspruchsvollen Theaters, dass darauf bedacht ist, eine kraftvoll reflektierende Dimension zu liefern. Von der ästhetischen Frage eines politischen Theaters durchzogen, strebt Castorfs Arbeit in der Gewalt und im Kontrast der Empfindungen ein Art permanenten und notwendigen „ironischen Skandal“ an.
Die Bayreuther Festspiele entschieden sich dafür, Castorf 2013 den Ring der „Zweihundertjahrfeier“ anzuvertrauen. Indem er die Codes der Oper auf Feinschmeckerart ins Wanken bringt, macht er aus seiner Inszenierung ein Freiluftlabor – ein Labor, in dem das Experimentieren den Schauspieler-Sängern erlaubt, ihre Rollen voll und ganz auf sich zu nehmen und im Zuge einer langen Zeit der Proben direkt auf die Ausarbeitung der Szenografie auf der Bühne einzuwirken. Diese Séancen werden im Allgemeinen von einem Assistenten (hier : Patric Seibert) geleitet und bringen Ideen hervor, wobei sich Castorf das Recht vorbehält, ihnen zuzustimmen oder sie zu verwerfen.
Begeistert von der Komplexität der Welt und den politischen Herausforderungen liebt er es vor allem, Klassiker wie Goethe, Shakespeare, Lessing, Dumas, Bulgakov oder Ibsen in Szene zu setzen. Das literarische und ideologische Material seiner Inszenierungen kombiniert Exzerpte von Dostojewskij, Tennessee Williams, Pitigrilli, Heiner Müller oder Bertolt Brecht… Die überbordenden Zitate liefern Castorf das einzigartige und vielfältige Material, das mit den Grenzen der Genres und Stile spielend fertig wird : das Merkmal eines freien Geistes.