Durch die ausgeprägte Präsenz Berlins, genauer Ostberlins, will dieser Ring die Ambiguitäten und Entwicklungen Deutschlands im Prisma der ideologischen Kämpfe zwischen Ost und West zeigen. Castorf hat nie geleugnet, einer Welt anzugehören, die geprägt ist von der politischen Ablehnung eines Westens, der durch seine ideologischen und ökonomischen Werte pervertiert wurde. Als neuer Intendant der (im ehemaligen Ostberlin gelegenen) Volksbühne installierte er ein beleuchtetes „OST“ auf dem Dach des Gebäudes. In den ersten beiden Teilen von Rheingold und Walküre wird diese Referenz an Berlin und an Deutschland willentlich verwischt und auf Abstand gehalten. Im Prolog spielen einige flüchtig wahrnehmbare Trashfilm-Plakate auf den Mauern der Tankstelle am Rande der Route 66 auf die Populärkultur im Nachkriegsdeutschland an. 

In der Walküre verweisen auf die Wand gemalte Parolen sowie die Feuersbrunst der Ölquellen beim Abschied Wotans auf die sowjetische Sabotage der Ölfelder von Baku angesichts der vorrückenden Wehrmacht im Juli 1942.

In Siegfried und Götterdämmerung wird der Bezug auf Deutschland in einem irregulären Spiel aus Rückblick und Vorschau deutlicher, welches die Situation des Landes und insbesondere Berlins vor und nach der Wiedervereinigung zeigt.

 Anspielungen auf die chemische Industrie von Schkopau sowie zahllose, auf Deutschland Bezug nehmende Objekte – wo ein Schwenk des Bühnenbildes bald den Eisernen Vorhang, bald die Mauer in Erinnerung ruft – sie alle sind dem deutschen Zuschauer als Anspielungen klar erkennbar.

 Provokation oder Fingerzeig ? Die drei Farben der Nationalfahne Deutschlands erscheinen in regelmässigen Abständen als visuelle Angelpunkte :

- Im Rheingold sonnen sich die Rheintöchter auf Liegestühlen in den drei Farben. Dreifarbig auch der Sonnenschirm und der Kragen der "Philippines Airlines" Jacke, die Patric Seibert trägt.
- Im Siegfried auf dem Campingtisch : die rote Thermosflasche, der gelbe Becher und der schwarze Kaffee.
- In der Götterdämmerung die glänzenden Kleider der drei Nornen sowie die Kerzen am Boden.

 Durch diese Gegenwärtigkeit der deutschen Fahne, paradoxerweise aufdringlich und unterschwellig zugleich, will Castorf dem Zuschauer zeigen, dass sich hinter dem germanischen Mythos ein Bezug auf die deutsche Wirklichkeit verbirgt, durch die Geschichte und selbstverständlich auch durch die Gegenwart hindurch.

 Der Ring zur Feier von Wagners zweihundertstem Geburtstag trägt in sich den Anspruch auf ein nur in seinen polemischsten Aspekten angenommenes Deutschsein.

 Castorf macht aus Wagners Werk ein eigenständiges Element deutscher Geschichte und Identität. So sehr der deutsche Zuschauer fast augenblicklich all die Zeichen sieht, die auf Deutsches verweisen (ohne zwangsläufig diese Sicht zu teilen), so hat der nicht-deutsche Zuschauer zweifellos einige Mühe, diese Zeichen zu erkennen und riskiert, sich zu verlieren : Wieviele Zuschauer haben die Weltzeituhr (Urania) im Siegfried oder die Berliner Mauer im Bühnenbild der Götterdämmerung erkannt ?

Die Castorf'sche Zeichensprache ist vielfältig, zwanghaft und paradox. Sie ist ein „Ich liebe dich, ich auch nicht“, das ununterbrochen im Geist des Zuschauers aufflackert, Verbindungen herstellt und Referenzen durcheinander schmeißt. Es ist klar, dass die „zeitlosen“ Inszenierungen der Vergangenheit, oder jene, die in Kino oder Kunst von allen geteilte Zeichen bieten, einem weniger germanophilen, weniger deutschsprachigen oder deutschkundigen Publikum mehr zusagen. Aber darin liegt eben die Originalität dieser Arbeit : Sie fordert vom Zuschauer zu entschlüsseln und zu verstehen, wie Castorf die Verbindungen des Rings als eine auf Deutschland angewendete Universalgeschichte konstruiert. Die Frage Wagner ist eine noch unbeantwortete deutsche Frage.

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