Der Wotan Frank Castorfs ist vielfältig. Es gibt nicht einen Wotan, er ist viele, verändert sich mit Voranschreiten der Geschichte nach und nach, wie durch jene göttlichen Transformationen, an die uns die Mythologie gewöhnt hat. Um die Evolution dieser zentralen Figur des Rings zu verstehen, gilt es, eine wahrhafte Brecht'sche Distanzierung vorzunehmen und die Situation zu analysieren.

 Zunächst bei Wagner : Wotan und seine Bande tauchen vor der Walhalla auf, die von den Riesen erbaut worden war, jedoch ohne einen Pfennig in der Tasche, sie zu bezahlen (und will Wotan sie überhaupt bezahlen?) Die Götter sind wie die Aristokraten des Ancien Régime : Sie geben aus, aber sie zahlen nicht. Die Situation ist kritisch : Die Riesen nehmen die sanfte Freia als Geisel, Garantie der göttlichen Ewigkeit. Wenn sie verschwindet, verschwinden mit einem Schlag die Götter. Es braucht also eine Strategie, und Loge weist den Weg : Bestehlen wir den Dieb, reißen wir das Gold an uns, das Alberich hütet, der dämonische Bandenchef, den wir mit List in die Falle locken werden.

„Dallas, dein unbarmherziges Universum… verherrlicht das Recht des Stärksten“ ((Zeile aus dem Titellied der französischsprachigen Version von Dallas))

 Die Erzählung, die sich im Rheingold abzeichnet, handelt von einer Geschichte rivalisierender Banden, von Westentaschenganoven. Der Wotan Castorfs managt dieses unmoralische Universum nach Art eines J.R. Ewing : Ein Bandenchef, ein bisschen Dieb, ein bisschen Zuhälter. Nachdem er unter der Hand den Raub des Goldes durch die Rheintöchter organisiert hat, liegt er zwischen seiner Frau (Fricka) und seiner Schwägerin (Freia) im Bett, nimmt Erda in dunklem Winkel. Bei Castorf ist die wotaneske Welt des Rheingold ein Motel mit Tankstelle, das Golden Motel macht (so ein Zufall) aus diesem Rheingold ein Motelgold. Wotan, sein Besitzer, ist ein etwas vulgärer Lude im knallrosa Anzug, der mit den jungen Reisenden schäkert und von kleinen Diebstählen lebt. Ein wenig salonfähiger, aber nicht unsympatischer Typ, launisch und vom Verlangen getrieben wie so oft die antiken Götter. Im zweiten Akt der Walküre finden wir ihn vollkommen verwandelt. Good bye Texas, Öl, Motel mit seinen Figuren aus amerikanischen Serien oder Comics der 50er und 60er Jahre. Nach einem Prolog „jenseits der Zeit“ kehrt der erste Operntag zurück zu den Wurzeln der Erdölsaga, zu den Ölfeldern von Baku in Aserbaidschan. Castorfs Projekt erzählt die Geschichte des Rings im Prisma der Geschichte des Erdöls, welches Wagners Gold ersetzt, Akt für Akt in der Zeit voran. Der Wotan des zweiten Akts der Walküre ist folglich nicht der gleiche wie der im dritten. Im zweiten Akt ist er der patriarchale Typ des Grundbesitzers, der mit seinem langen Bart an gewisse Aufnahmen von Tolstoi erinnert. Er führt ein kleines Unternehmen, primitive aserbaidschanische Version des Golden Motel aus dem Rheingold, zugleich Bauernhof (die Truthähne), Ölquelle in Handarbeit und Mehrzweckhalle, sprich Biergarten : mit Eisblock, um die Lebensmittel frisch zu halten (es ist heiss…), Küchentisch für die Zubereitung der Suppe, aber auch dem eigenartigen Umriss einer Kirche. Kurz, nach dem glitzernden Golden Motel eine im Wesentlichen rustikale Walhalla, einer der einmalig hybriden Orte, an denen alles passiert, Geistesblitz des genialen Bühnenbildners Aleksandar Denić.

 Der Patriarch Wotan des zweiten Akts bleibt doch noch stets der launische Gott, den wir (im ersten Akt) auf dem Bildschirm sahen, damit beschäftigt den Mädchen nachzuschauen, ein randvolles Glas Wodka herunterzukippen und mit einer seiner Eroberungen zu telefonieren. Diese verspeist Kuchen und wird sodann, zu seinem großen Leidwesen, den angespannten Dialog mit Fricka im zweiten Akt unterbrechen. Aber bei Brünnhilde ist er ganz Erzähler, russischer Chronist, der berichtet, was zuvor geschah, er ist Pimen (aus Boris Godunow) aber er ist vielleicht auch der große Tolstoi, der uns Krieg und Frieden in Erinnerung ruft, in einer Episode, in welcher der Krieg entfesselt wird. Allerdings ist die so gezeichnete Figur nur ein Vorwand : „Para bellum“, könnte man sagen, denn während er erzählt, hantiert Brünnhilde mit dem Nitroglycerin. Der Chronist Wotan ist also nicht einfach gelassen und gleichgültig, er liest deutlich sichtbar die Prawda, ist ziemlich unmittelbar ins Zeitgeschehen eingebunden. Die zahlreichen Filme, die zur Ausschmückung der Szenen im Hintergrund laufen zeigen uns historisch verbürgte Vorbereitungen vorrevolutionärer Sabotageakte.

 Im dritten Akt wandelt sich Wotan und hat (um sich zu verstecken?) keinen Bart mehr, überhaupt nichts mehr vom Kulaken. Er ist glatzköpfig und glattrasiert, ganz in schwarz gekleidet (eine Konstante). Als Figur ist er jünger, nervös, gewalttätig (er zerbricht ein Stück Trockeneis und wirft die Brocken auf eine rote Fahne), zweifellos Spieler (er mischt nervös Karten, die er wütend in die Luft schmeißt) und ein Trinker, der sich damit abreagiert, sich einen Drink einzuschenken. Wir sind vorbei an 1917 beim Zweiten Weltkrieg angekommen : Die Sowjets bereiten sich darauf vor, ihre Erdölfelder zu sabotieren, um sie dem deutschen Vormarsch zu entziehen ; die Krise Wotans (der mit Siegmunds Verlust seine Wette verloren hat) überlagert sich mit der weltweiten Krise, dem Risiko, dass seine Macht über das Öl schwindet. Castorf konstruiert alles das parallel, Brünnhilde macht in ihrem knappen Dialog mit ihrem Vater nichts anderes, als ihm die Perspektive auf eine mögliche Fortsetzung zu eröffnen.

 Wir wissen es, Castorf macht sich über wohlbekannte Embleme des Rings lustig, wir haben es im Rheingold gesehen, wir haben es in der Repräsentation von Notung gesehen, dem Schwert, das sowohl in der „Scheune“ als auch in der Terrasse des Biergartens steckt. Im dritten Akt wird Wotan recht rasch seinen Speer im Truthahngehege los, das zur „Garderobe“ zerfledderter Kleider geworden ist. Und sein Auge (der traditionelle Wotan hat nur ein Auge, das andere wurde auf dem Altar der Allwissenheit geopfert) hat noch keinen Schaden genommen, ist aber ohne Zweifel bereits fragil : im Dialog mit Brünnhilde macht er sich Augentropfen hinein. Man sieht, alles ist da und doch nicht da. Ein weiteres Mal zieht die Geschichte (die große, die der Welt) vorbei, die kleine (die des Libretto) ist in Form von Meilensteinen präsent – Wegmarkierungen, die uns die Mythologie des Rings in Erinnerung rufen, ihrerseits bereits von Wagner wohl „arrangiert“. Aber trotzdem sie in Baku spielt, ist die Walküre vielleicht diejenige Episode, die den Erwartungen der Zuschauer und einer bestimmten Tradition am Nächsten steht.

 Mit dem Siegfried betreten wir ein anderes Universum, strukturiert von Ideologien, und so ist Berlin eines seiner Embleme. Zum einen ist der Zweite Weltkrieg vorbei, zum anderen sind die Helden gealtert. Wotan zieht ziellos auf der Erde umher, der Wanderer wartet geduldig, dass Siegfried seine Aufgabe erledigt. Hierzu muss er die Dinge beschleunigen : So stattet er Mime einen Besuch ab, der den Familienwohnwagen aus dem Rheingold bewohnt, umgeben von Büchern, mit denen er Siegfried überhäuft hat und unter dem treuhänderischen Schutz von Marx, Lenin, Stalin und Mao, im marxistischen Pendant des amerikanischen Mount Rushmore in Stein gemeißelt. Wie zuvor Alberich bringt er Mime auf den Weg, lässt ihn erahnen, dass nur Siegfried Notung neu schmieden kann.

 Er stellt sich Mime mit dem traditionellen Hut des Wanderers vor, mit seinem Speer (der diesmal „typisch“ ist), aber die Augen verborgen hinter schwarz getönter Brille. Mime hebt sie an und sieht zur gleichen Zeit auf Wotans Brust den Kopf eines tätowierten Wolfs. Kein Zweifel möglich an der Identität des Besuchers. Wohlweislich macht Castorf aus diesem ersten Akt einen quasi traditionellen ersten Akt, in dessen Verlauf man allerdings bemerkt, dass Wotan keine Bücher mag, insbesondere nicht die des Mime. Mit Herablassung öffnet er zwei oder drei von ihnen und wirft sie weit von sich. Wotan ist kein Ideologe, er ist DIE Macht, und die Macht macht sich wohl lustig über die Ideologien. Als er mit Mime fertig ist, springt er voller Wut auf seine Brille und zertritt sie : er braucht sie nicht länger. Im zweiten Akt begegnet Wotan Alberich am Fuße des Mount Rushmore : Alberich, der neben dem Wohnwagen schläft, dem generischen Ort, an dem alle vorbeikommen und der Markenzeichen ist von Alberichs Geschlecht. Auch er verachtet die Bücher, mit der gleichen Abscheu wie Wotan…

 Wie viele Regisseure nach Chéreau unterstreicht Castorf die sich kreuzende Identität von Wotan-Alberich mit der schwarzen Kleidung, die beide tragen. Folglich trainiert Wotan Alberich in der Neidhöhle, der Höhle des Drachen, gelegen… am Alexanderplatz, in jenem Ostberlin, das kaum aufgebaut schon beunruhigend ist. Diese Idee von Fafners Höhle macht aus Ostberlin eine gefährliche, von Drachen (und Krokodilen…) bevölkerte Welt. Wotan hat seine Aufgabe als Stimulator erfüllt – für Mime im ersten Akt und für Alberich im zweiten : da also alles erreicht ist, genügt es nun, den jungen Siegfried im dritten Akt zu prüfen. Dieser beginnt mit einer der frappierendsten Szenen des gesamten Rings, der Begegnung von Wotan und Erda. Wotan ist nicht mehr Wanderer, sondern ein etwas angetrunkener, etwas verzweifelter Lebemann im offenen Frack, der nach Erda ruft : Auf seinen Ruf hin stürzt sie auf die Bühne. Die Frage Wotans (die überdies an die Frage Macbeths an die Hexen erinnert…) wird von Castorf als definitive Trennungsszene einer alten Beziehung behandelt, die weitergelebt hatte. Indem er aus Erda eine Figur und kein Phantom macht (fabelhafte Nadine Weissmann) erinnert er zugleich an Rheingold (wo das Wiedersehen in schäbiger Kopulation hinter einer Tür endet) und gibt der Begegnung eine sehr angespannte Note in einem derart absurden Ambiente, dem Ionesco nicht widersprochen hätte (der servierende Kellner, der ihnen ohne Ende literweise Wein bringt, der Hinweis „reserviert“ auf vier oder fünf Tafeln, die Erda wutentbrannt beiseite schiebt, der enorme Nudelteller). Kurz, er setzt die Karikatur eines Abschiedsmahls in Szene, bei dem alles auseinanderfällt.

 Verbittert geht Erda, kommt bald zurück, schweigend, mit blonder Perücke der Prostituierten, und als Wotan ihr den Befehl erteilt zu verschwinden – „Hinab!“ – geht Erda tatsächlich hinunter, aber auf Höhe der Hose… Dieser Wotan da, ein bisschen weniger vulgär und böser Junge, ist ein verwahrloster und etwas verlorener Aristokrat. In seiner letzten Szene, die sich auf dem Gipfel des Mount Rushmore abspielt, wird er vom Lärm des ankommenden Siegfried von der Bühne gejagt. Siegfried erscheint ohne Notung, Wotan ohne Speer : sie finden beide auf dem obersten Laufgang des Bühnenbilds wieder, doch wie gehabt nutzt Castorf die Symbole des Rings nicht wie erwartet : Siegfried, der mit dem Hut spielt und ihn ins Leere wirft, zerschlägt den Speer nicht mit Notung, er biegt ihn bis er bricht. Und der Wanderer verschwindet in die Dunkelheit und lässt Siegfried freies Feld.

 Diese Szene markiert das letzte Erscheinen Wotans. In der Götterdämmerung ernten die Menschen, was die Götter gesät haben. Wie bei Kupfer (bei dem Wotan zum Trauermarsch erscheint) ruft uns Castorf in Erinnerung, dass Wotan weiterhin da ist. In dem Moment, als Waltraute hereinplatzt, sieht man sein Gesicht in Nahaufnahme auf dem Bildschirm, das Auge geschminkt wie Alex, der Held von Kubricks Clockwork Orange. Ultimative Spur desjenigen, der alles eingefädelt hat, von dem wir aber nie wissen werden, ob er die Partie verloren hat…

 

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