Siegfried ist die Hauptfigur im zweiten Teil des Rings, eine Figur, zu der Wagner kontrastreiche Beziehungen unterhält : Seinen eigenen Sohn nannte er Siegfried, und doch stattet er seinen Helden Siegfried mit ambivalenten Zügen aus, liebevoll und lieblos, gleichgültig und launisch, voller Verlangen nach Brünnhilde und bereit, sie so schnell wie möglich zu verlassen. Ein auf die Welt losgelassener toller Hund. Die Frage, die sich Castorf in Bezug auf Siegfried stellt, ist die der Erziehung. Es ist mithin eine von Wagner gestellte Frage : Siegfried oder „Über die Erziehung“. Als eine Art wildes Kind, von Mime erzogen, lebt er im Wald in Kontakt mit der Natur, und die Natur ist es, die ihn erzieht (er selbst sagt es, wenn er Mime nach seiner Herkunft fragt):.

"Vieles lehrtest du, Mime,
und manches lernt' ich von dir" (Siegfried I,1)

Siegfried ist ein reines Produkt des Naturzustandes, der Jean-Jacques Rousseau lieb und teuer war, wurde in dieser Eigenschaft im Kräfteverhältnis erzogen, vor allem nach dem Gesetz des Stärkeren. Aber da er keine Angst kennt, ist er notwendigerweise gut dafür gerüstet, der Stärkere zu sein – und wird es sein, sobald Notung geschmiedet ist. Castorf nutzt diese Vorgaben : Mime der Ideologe, der alle Bücher gelesen hat (sie liegen überall um den Wohnwagen herum) hat Siegfried entlang der Prinzipien einer „kulturellen“ Erziehung großgezogen. Aber der Erzieher ist zugleich Bruder des Alberich, der auf die Liebe verzichtete. Man versteht von daher, dass Siegfried unvermeidlich einige Schwierigkeiten mit dem weiblichen Geschlecht hat…

Er liebt Mime nicht, sondern misstraut ihm natürlicherweise. Siegfried ist der Ort des Konflikts zwischen Natur und Kultur, Produkt einer verfehlten Erziehung, die den Samen des Terroristen in ihn legte. Er hat zu wählen zwischen dem Schwert Notung und dessen Entsprechung in den Kisten, die aus dem Wohnwagen geräumt werden und auf denen in kyrillischen Buchstaben geschrieben steht : НОТУНГ. Als er die Kiste öffnet, findet er… die Kalaschnikow, mit der er den Drachen Fafner töten wird. Im Vorspiel der Götterdämmerung reicht ihm Brünnhilde just in dem Moment, als sie von den Runen spricht, die sie an ihn weitergab, eine Puppe, so als wollte sie ihm ihren Kinderwunsch signalisieren. Siegfried denkt darüber nach und geht auf Abstand, zieht es vor, die Waffe an sich zu drücken. Übrigens stellt er sich den Gibichungen mit dieser, wie eine Mumie in Stoff gewickelten Kalaschnikow vor.

Siegfried ist nicht dafür gemacht zu lieben : Bereits im letzten Duett im Siegfried, in dem Moment, da Brünnhilde sich angesichts seiner Beharrlichkeit darauf vorbereitet ihn ziehen zu lassen, hört ihr Siegfried nicht mehr zu (gewohntes Dialogverhalten bei Castorf, wo die Zuhörenden systematisch andere Dinge tun) und füttert am Ende die Krokodile mit Brotstückchen. Das Paar hält Abstand und es ist klar zu erkennen, dass Siegfried nicht mehr weiß, was er mit dieser entschlossenen Frau soll, die zu allem bereit ist und ein wenig aufdringlich.

Als er entdeckt, dass der etwas unvorsichtige Vogel von einem anderen Krokodil verschlungen wird, rettet er ihn nicht nur, sondern lässt eine unmissverständliche Umarmung folgen, was Brünnhilde gar nicht schätzt. Sie versucht, ihn aus dem Flirt herauszureißen, derweil die Musik der triumphierenden Liebe erklingt. Diese urkomische Szene, die alle Liebe und jede Romantik tötet, erhellt uns auch die eigentliche Natur der Figur, wie Castorf sie sieht.

Tatsächlich bringt Siegfried im ersten Akt die Wirklichkeit des Lebens zur Sprache, die er im Wald bei sich paarenden Vögeln beobachtet hatte :

„Es sangen die Vöglein
so selig im Lenz,
das eine lockte das andre :
du sagtest selbst,
da ich's wissen wollt',
das wären Männchen und Weibchen.
Sie kosten so lieblich,
und liessen sich nicht ;
sie bauten ein Nest
und brüteten drin :
da flatterte junges
Geflügel auf,
und beide pflegten der Brut."

Im zweiten Akt setzt er seine Beobachtungen mit dem Vogel in die Tat um. Im dritten bekräftigt er sie. Die Worte, mit denen er sich an Brünnhilde wendet, sind unzweideutig : „Sei mein!“ Brünnhilde widersetzt sich und schließlich langweilt es ihn. Sie fordert die Heirat, legt die lächerliche Kleidung einer verheirateten Frau an, und doch wendet mit dieser Forderung nur die Runen an (siehe die Episode mit Wotan und Fricka im zweiten Akt der Walküre), die sie Siegfried weitergibt. Siegfried jedoch, wir haben es gesehen, sträubt sich gegen die Erziehung : Er sträubt sich gegen die Runen wie gegen den Rest. Castorfs Siegfried ist schlecht erzogen, er ist ein gewalttätiger, ein schlechter Junge, ein angehender Terrorist : (gewohnheitsmäßig) gewalttätig gegen Mime, nicht sehr freundlich zum Wanderer, dessen Speer er mit bloßen Händen zerbricht (auch dort braucht es Notung nicht), freundlicher zu den Tieren als zu Brünnhilde (zum Vogel, zu den Krokodilen… Darüber hinaus sagt er zu Mime : „Alle Tiere sind mir teurer als du“), zweifelsohne aufgrund seines engen Kontakts mit der Natur…

Bereits in der Götterdämmerung hat er nur noch ein Verlangen, fliehen,, mit seiner Kalaschnikow auf und davon, so sehr lauert die Langeweile. Während er gestützt auf die Waffe mürrisch meditiert legt Brünnhilde Patiencen. Der Vergessenstrank, den Hagen ihm zu trinken gibt, zeigt unmittelbare Wirkung : sein etwas wildes und dem weiblichen Geschlecht gegenüber hemmungsloses Naturell kehrt zurück. Vor dem Trank hatte er die gekränkte Gutrune fortgeschickt, sich um Grane zu kümmern, kaum hat er den Trank intus, wirft er sich auf sie und nimmt sie ungeschlacht gegen den Wohnwagen gepresst. Nachdem er sie hatte, fragt er Gunther nach ihrem Namen. Gegenüber Brünnhilde zu Gunther geworden (einem Gunther, der sowohl an Hagen als auch an Wotan erinnert) wirft er auch sie brutal gegen den Wohnwagen, zerstört dabei die Seitenwand. Im Übrigen wird er von nun im schwarzen Anzug der Gibichungen auftreten, den nicht zuletzt Hagen trägt – seine Erziehung und sein Verhalten hat ihn zum würdigen Mitglied werden lassen. Indem Hagen ihm den Trank verabreicht, schleust er Siegfried in Alberichs Lager, bar der Liebe, aber mit dem Ring, den er aus unerfindlichen Gründen bei Brünnhilde an sich bringt.

Gewalt auch im dritten Akt, diesmal gegen den armen Teufel, der das frühere Voodoo-Heiligtum mit seiner Gefährtin besetzt hat, welche Siegfried in höchstem Maße interessiert. Während er mit seiner Freundin schäkert, verpasst er dem am Boden liegenden armen Kerl einige wohl platzierte Schläge, was auf seltsame Art an die Szene von Don Giovanni und Masetto erinnert, in der die junge Zerline schließlich eingreift, um ihren Gefährten zu pflegen, dem übel mitgespielt wurde. Dieser Siegfried hat also keine komplexe Psyche, für ihn gelten ausschließlich Faustrecht und Sex, direkt und brutal. Naturzustand, wilder Zustand : keinerlei Erziehung, weder Ideologie noch Runen haben Einfluss auf dieses Wesen ohne Glauben und Moral. Wenn es am Ende des zweiten Aktes der Götterdämmerung nötig wird, den Soldaten Siegfried zu töten, lässt sein Tod kein Bedauern aufkommen. So ist eben der Lauf einer Welt, die von Ideologien und dem Ausarten der Kultur und der Kulturen beherrscht wird.

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