Zunächst haben wir hier zweifellos das beeindruckendste Bühnenbild des Rings, das die Bühne fast erdrückt ; das ein Spiel in der Höhe nicht weniger als in der Breite erlaubt und von den Sängern die merkwürdige Anstrengung erfordert, Gipfel zu erklimmen und Berge zu besteigen. Der Eindruck, den man beim Öffnen des Vorhangs bekommt ist überzeugend. Man kennt Mount Rushmore in den USA : den Berg in South Dakota, in dessen Fels man zwischen 1925 und 1941 die Gesichter der großen Präsidenten aus dem Gründungsmythos der USA Skulptur hat werden lassen ; Washington, Jefferson, Lincoln, Th. Roosevelt. Die beiden Jahrzehnte entsprechen ungefähr der Zeit des Stalinismus in der UdSSR. So hat der Bühnenbildner Castorfs, Aleksander Denić, sich den Ort, an dem Siegfried aufgezogen wurde im Ausgleich als einen parallelen Mount Rushmore vorgestellt, mit den Gesichtern von Marx, Lenin, Stalin und Mao, die über Siegfrieds Erziehung durch Mime wachen, den Intellektuellen, der ein wenig an Brecht erinnert und in Büchern badet.

 

 Dieses Bühnenbild, eines von zwei Bühnenbildern des Siegfried, markiert jenen Moment, in dem sich die Ideologien festsetzen und gedeihen, die Ideologien und die Imperialismen, und die Welt in Stellvertreterkriegen neu zusammensetzen. Als guter Ost-Junge ist Siegfried mit der Milch des Marxismus-Leninismus von einem Intellektuellen erzogen worden, der auch nur davon träumt, Macht über die Welt zu haben – was in Siegfried jene bestialische Gewalt hervorrufen wird : seine Unfähigkeit zu lieben, das Unvermögen, über die Welt, die Dinge und die Menschen nachzudenken.

 Verweilen wir einen Moment beim kommunistischen Mount Rushmore. Man kann damit spielen, die Gesichter übereinander legen und neue Paare bilden : Marx-Washington, Lenin-Jefferson, Stalin-Roosevelt, Mao-Lincoln. Selbst wenn der chronologische Faden in der „amerikanischen Version“ zerrissen ist, treibt uns die Versuchung zur Analyse dieser Assoziationen. Beginnen wir mit Marx, Gründervater des historischen Materialismus, Theoretiker der Revolution, Autor des Kapitals und Mitautor des Manifests der Kommunistischen Partei. Indem er den Platz von George Washington einnimmt, dem Vater der Bill of Rights samt der ersten zehn Amendments zur amerikanischen Verfassung, begreift der Zuschauer augenblicklich, was West- und Ostblock miteinander verbindet, mit dem Gründer und ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten auf der einen (1789–1797) und dem Vordenker und Begründer des kommunistischen ideologischen wie politischen Systems auf der anderen Seite.

 Die Faszination der französischen Revolution kann einen Teil der Kombination Lenin-Jefferson erklären. Der dritte amerikanische Präsident (1801–09) ist Verfasser der Unabhängigkeitserklärung. Als die Revolution losbrach war er Botschafter der USA in Frankreich, als Mitglied der republikanisch-demokratischen Partei verschrieb er sich zeitlebens dem Geist der Aufklärung. Der Kontrast zu Lenin, dem Erfinder und Regisseur der Diktatur des Proletariats durch die Herrschaft der bolschewistischen Partei, ist außerordentlich frappant. Castorf nähert die Revolution von 1905 und den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg als historische Entstehungspunkte beider Nationen einander an, deren politische, ökonomische und philosophische Systeme Rücken an Rücken (oder „Mauer an Mauer“) standen.

 Ein Schnurrbart dient als verbindendes Element zwischen Stalin und Theodor „Teddy“ Roosevelt. Der 25. Präsident der Vereinigten Staaten (1901–09) ist Autor des noch immer berühmten Satzes „Sprich leise und höflich, aber trage stets einen dicken Knüppel bei dir“. Die Politik des „Big Stick“ hätte sein Castorf'sches Alter Ego mit Neid erfüllen müssen : das Väterchen der Völker, den Initiator der Umerziehungslager und der „stalinistisch“ genannten Prozesse. Als erster Präsident, der sich um den Erhalt von Naturräumen und Fauna bemühte, hinterließ Theodor Roosevelt der Nachwelt den „Teddy-Bären“, während der Fleischfresser Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili die russische Version vom „Mann aus Stahl“ vorzog…

Das Bühnenbild des Aleksandar Denić verweist auf ein letztes Ost-West-Paar : Mao-Lincoln. Ersterer setzte sich an die Spitze der chinesischen kommunistischen Partei und überwältigte die Kuomintang unter Chiang Kai-shek in einem blutigen Bürgerkrieg (1927–1949), der zur Ausrufung der Volksrepublik China führte. Lincoln verteidigte als 16ter und erster republikanischer Präsident (1861–1865) die Abschaffung der Sklaverei. Seine Wahl löste die Sezession der Südstaaten und den daraus resultierenden Bürgerkrieg aus. Der Sieg über die Konföderierten sollte für die Vereinigten Staaten eine vergleichbare Wichtigkeit haben wie der Sieg der chinesischen Kommunisten über die nationalistischen Kräfte.

 Wenn er Diktatur und Totalitarismus als in Statuen verewigtes Fries zur Schau stellt, bedient sich Castorf des gleichen Imageträgers wie die Amerikaner auf Seiten des Westens, er zeigt also, dass sich das Streben nach Macht nicht lohnt, was das eigentliche Thema des Wagner'schen Rings ist. Die Präsenz eines Gerüsts auf dem Mount Rushmore besagt gleichwohl, dass diese Geschichte noch nicht beendet ist. Kein harmloses Indiz : Baustelle einer neuen in Stein gemeißelten Tetralogie oder Rekonstruktion (Ersetzen früherer Modelle) oder aber Baustelle zur Zerstörung von Ideologien und Idolen ? Allein der Zuschauer entscheidet. Auf dem neu gesehenen Mount Rushmore vervielfachen sich die ebenso ulkigen wie bedeutungsvollen Szenen. Mime versetzt Marx einen Schlag mit dem Hammer auf die Nase, während der „Bär für alle Fälle“ Patric Seibert Lenin entstaubt und Siegfried Stalin aufs Auge schlägt (siehe Artikel Auge), allen vier Köpfen mit seinem Schwert Notung droht.

 Ebenso wie der Bart Wotans im zweiten Akt der Walküre an die Gesichtsbehaarung von Vater Marx erinnert, findet man Zitate der drei anderen ein wenig überall im Ring verstreut. Das Fabrikschlote einweihende Profil Lenins taucht auf Seite eins der Prawda auf, die Wotan in der Walküre durchblättert, als wolle er im Moment der Konfrontation mit Fricka seine eigenen Runen konsultieren. Auf sehr großes Format projiziert wird das quasi christliche Bild dazu dienen, die Flucht von Siegmund und Sieglinde am Ende des ersten Akts zu decken. Im zweiten Akt wird sich Sieglinde auf der gleichen Ausgabe der Prawda ausstrecken, in der Götterdämmerung jedoch nimmt das Symbol bedrohliche Gestalt an, wenn der schreckliche Schatten Hagens darauf fällt, der nach dem Mord an Siegfried mit ausgestrecktem Arm seine Vasallen zurückschickt.

 Stalin hat in Gestalt des in seinem Käfig gefangenen Revolutionärs einen unaufdringlichen Auftritt in der Walküre. Wir wissen, dass die Karriere des Väterchens der Völker in den Ölfeldern von Baku begann, als er die Radikalisierung der lokalen Arbeiterbewegung in die Hand nahm, um gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu protestieren.

 Mao wird am Ende des Siegfried zitiert, wenn die berühmten Krokodile auf dem Alexanderplatz Einzug halten und auf der Glaswand des Bahnhofs ein verkitschter Alberich erscheint, ganz Lächeln und mit ausgestrecktem Arm, als wolle er nach Art des großen Steuermanns in Richtung des strahlenden Glücks weisen. Lenins Beispiel von Siegmund und Sieglinde in der Walküre folgend, segnet er das Paar Siegfried-Brünnhilde mit einer ambivalenten Geste, die nichts Gutes verheißt…

 Wieder einmal hat Castorf die Sache nicht verraten, illustriert sie durch eine Lektüre unserer Welt.

 

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