Voodoo
Wir berühren hier einen der komplexesten Aspekte der Tetralogie. In der Szene der Nornen taucht die Thematik des Voodoo explizit auf : In einer kleinen und ungesunden Kammer am Fuße eines Mietshauses thront ein Videobildschirm auf einem mysteriösen Stapel, der einem Altar oder einem kultischen Ort ähneln könnte. Dort spielt sich ein Reinigungsritual ab, das aus dem Trinken und Ausspucken auf einen Totenkopf und andere Fetischobjekte besteht, während ein Video das blutige Opfern eines Huhnes zeigt ((Andere Vögel sind, diesmal sehr lebendig, im ersten Akt der Walküre auf der Bühne präsent. Sie sind ein wiederkehrendes Motiv bei Castorf (Siehe auch Die Kameliendame).)) … Später erscheint Hagen in einer langen Filmsequenz, just in dem Moment, als die Brandstiftung den Wohnsitz der Götter bedroht ; er durchquert einen Wald und streckt sich in einem Kahn aus, der sich langsam über einen See entfernt. Man denkt vage an eine poetische Bestattungszeremonie, ein Übergangsritual, das noch Züge von Schamanismus in sich trägt : Die Reise der Toten ins Jenseits. Es wäre verlockend herauszufinden, welchen Sinn die Tatsache hat, diese Szenen der Denunzierung der durch die Prinzipienlosigkeit von Spekulation und Marktgesetzen degenerierten Gesellschaft gegenüberzustellen, was bei Castorf quasi permanent geschieht. Als sich der Niedergang der Ideologien und falschen Werte abzeichnet, bleibt letztlich nur die althergebrachte Form der Spiritualität, Ablagerung unabänderlicher und bewahrter Riten, um den Menschen mit sich selbst und der Welt zu verbinden – beziehungsweise der in den Elendsvierteln lebendige Rest von Aberglauben in dieser Welt des Konsums ohne Gott und Meister, sieht man vom Erdöl-Gold einmal ab.
Die Erwähnung des Voodoo im Theater Castorfs mag ebenso gut auf den Widerstand der schwarz-afrikanischen Sklaven verweisen, denen die Kolonisatoren das Praktizieren ihrer Sprachen und Kulte verboten hatten. Die Voodoo-Religion hat als Antwort auf die Grausamkeiten überdauert, deren Opfer die Schwarzen geworden waren. Diese „soziale“ Erklärung setzt sich auf den Wänden des Voodoo-Raumes mit jener Reihe neo-faschistischer Plakate fort, die kaum plakatiert von anti-faschistischen Parolen überdeckt werden… Die letzte Anspielung auf Voodoo-Riten lässt sich sehr wohl in der letzten Szene des Rheingold finden, in einer sehr spektakulären Sequenz, wenn die Komparsen nach Art von Chippendale-Zombies auf das hochtrabende Leitmotiv der Zerschlagung Walhallas, Wohnsitz von Wotan ((Das Äquivalent Wotans im Voodoo nennt sich Mawu (Man-Wu ausgesprochen): Höchster, über die anderen Götter herrschender Gott…)), in Zeitlupe zu tanzen beginnen. Sie alle tragen sehr helle Kontaktlinsen, was die Illusion einer Horde Zombies in Bewegung erzeugt. In der Voodoo-Kultur sind diese Kreaturen wiederbelebte Tote, die unter der totalen Kontrolle eines Zeremonienmeisters stehen. Wir treffen hier wieder auf die Atmosphäre der Horrorfilme aus der Trashfilm-Reihe, mit ihren Voodoo-Puppen und Verhexungen. Castorf gibt, nicht ohne Humor, dem Verlangen nach, die Figuren als von der Musik des Hexers von Bayreuth verzaubert zu zeigen. Diese Chippendales auf Ecstasy sammeln das Gold ein und vergnügen sich mit den Barren und Pailletten im Pool, wie es sonst gewöhnlich die Rheintöchter tun.
Es ist klar, dass der Voodoo-Kult die Welt Castorfs anspricht, vielleicht um kulturelle Spuren und die Durchtränkung der westlichen Welt zu unterstreichen, um nicht zu sagen der höchsten Kultur der westlichen Welt. Wir erinnern uns, dass Christoph Schlingensief in seinem Parsifal in Bayreuth den Voodoo-Kult ebenfalls als Illustration der Gral-Zeremonie verwendete sowie Blut als Symbol der Regeneration. Das ist also nichts Neues auf der Bühne in Bayreuth und erinnert daran, dass Christoph Schlingensief an Frank Castorfs Volksbühne gearbeitet hat : Das Nachdenken über eine primitive Urwelt, deren Spuren sich in unserer Welt am Abgrund erhalten, ist weder neu noch unpassend.