Seibert (Patric)
Von Anfang bis Ende dieses Rings ist der Assistent Frank Castorfs und Dramaturg am Meininger Staatstheater auf der Bühne präsent, besetzt die Rolle des Chors der Theaterstücke im antiken Griechenland. Castorf konzentriert den „Chor“ (auf altgriechisch Χορὀς, choros, „Tanz“) in dieser stummen Figur, die nicht mit einem einfachen Komparsen zu verwechseln ist ; seine Rolle ist zentral. Als Darsteller kommentiert er die sich entfaltende Handlung nach Art des antiken Chors, der auf der Bühne anwesend ist, um das Publikum auf den Sinn einer Darstellung hinzuweisen sowie auf die Art und Weise, wie es zu reagieren hat. Stutzig geworden durch den Effekt, den der Anblick eines Assistenten produzierte, der die Sänger in ihren Bewegungen führt, schrieb Castorf Patric Seibert nach den ersten Proben eine wichtige Funktion als Vermittler und Eingreifender zu. Das Abenteuer beginnt mit der ersten Szene des Siegfried, wenn Seibert pantomimisch in der Rolle des Bären hervorspringt, Kopf in der Schlinge, ganz wie Lucky in Samuel Becketts „Warten auf Godot“ von Pozzo tyrannisiert wird. Dieses Bild der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen fügt sich ganz natürlich in die von Castorf in seiner Inszenierung vertretene Linie.
Im Rheingold ist Seibert der Barmann, jener anonyme Kalfaktor, an den wir das Wort nur richten, um Anweisungen zu geben. Das Faktotum versucht von den Gelegenheiten zu profitieren, die sich bieten, insbesondere indem er kompromittierende Fotos von Wotan macht, um mit Loge über eine mögliche Erpressung zu verhandeln. Die Verkettung der Situationen gerät ihm nie zum Vorteil, mit einem Schuss schwarzem Humor verwandelt sich jede seiner Enttäuschungen in Situationskomik : die Riesen, die mit Baseballschlägern die Tankstelle stürmen, um alles kurz und klein zu schlagen, Wotan, der ihn körperlich angreift usw. Er wird mit Motoröl bekleckert, bekommt eine Banknote auf die Stirn geklebt, ist ein Rädchen, ein Objekt, ein Sklave, bestenfalls Mobiliar. Für sich selbst genommen ist er die Synthese des Schicksals des Nibelungen, die von den aufeinander folgenden Besitzern des Rings ausgebeutete Arbeitskraft.
In der Walküre liegt er mit Blut besudelt unter einer Decke (logische Folge der Ereignisse des Vorspiels). Im dritten Akt auf den Rang menschlichen Geflügels abgestiegen, nimmt er den Platz der Perlhühner in ihrem Käfig ein. Man lacht unfreiwillig, wenn man ihn so als Gefangenen sieht, fieberhaft damit beschäftigt, die Seiten eines Buches umzuschlagen, von dem man ahnt, dass es sich um ein revolutionäres Werk handelt. Die flüchtige Szene dient als Bindeglied zur anschließenden Episode : Mime, der unterdrückte Ideologe, der, in die Wüste verbannt, die großen Persönlichkeiten des revolutionären Denkens für Siegfried in Stein meißelt.
Im Siegfried ist er der wissende Bär, dessen Tierhaftigkeit sich in Kontakt mit dem marxistischen Denken in Wissen und Erkenntnis wandelt. Diese Verwandlung ist nicht einfach ironisch, sie hält dem Schicksal Siegfrieds den Spiegel vor, jenem wilden und brutalen Jugendlichen, der mittels ihm gestellter Bewährungsproben den Stand der Kultur erreicht. Am Ende des ersten Aktes als Transvestit im unwahrscheinlichen Hochzeitskleid mit Stöckelschuhen und weißen Schleier reckt er dem Helden verliebt die Arme entgegen, der hin zu andern Abenteuern flieht. Die kurze Sequenz nimmt die Situation Brünnhildes in der Götterdämmerung vorweg, die von Siegfried sukzessive verlassen und betrogen wird… und der doch stets liebevoll bleibt. Als Kronzeuge der ergreifenden Szene zwischen Wotan und Erda auf dem Alexanderplatz zieht Seibert ein weiteres Mal die Kleidung des Kellners an – ein Prügelknabe und ein Leibeigener… ein ewiger Verlierer, dessen Spielweise ebenso wie die Running Gags an Buster Keaton und Charlie Chaplin erinnern.
Am letzten Tag erreicht die dramatische Dimension des Patric Seibert als Figur-Chor das Erhabene, in Umsetzung der Rolle wie in der Komplexität der Darstellung und Kommentare. Castorf setzt die Figur als eine Art Synthese der vorangegangenen Episoden in Szene. Der Barmann taucht hinterm Tresen eines Döner Kebab wieder auf, kaum verschont von der Gewalt der Kundschaft, die trunken sind von Hass und Alkohol. Im Golden Motel war er Angestellter Wotans, jetzt wird er von den Gibichungen ausgebeutet, was aber nichts an seinen Arbeitsbedingungen und seinem Status ändert. Castorf gibt ihm eine ebenso knappe wie surrealistische Szene, aufs Neue als weiße Braut gekleidet schiebt er einen Kinderwagen auf eine lange Treppe, bald verliert er die Kontrolle, Kartoffeln fallen daraus herab … Verweis auf die berühmte Szene des Massakers an der unschuldigen Bevölkerung durch zaristische Soldaten auf der Treppe von Odessa ((https://www.youtube.com/watch?v=ucfzkOvUGqs)) in Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin, hier an ein symbolisches Nahrungsmittel Deutschlands geknüpft. Wir sehen ihn wieder, ein anderes historisches und gastronomisches Symbol in der Hand, wie er, die Gewalt und Tierhaftigkeit der Menge in affenartiger Geste imitierend, eine Banane verputzt.
Das Schicksal dieser multifunktionalen Figur wird am Ende der Götterdämmerung brutal besiegelt. Die Rheintöchter öffnen den Kofferraum des Mercedes, den sie Wotan im Vorspiel entwendet hatten und finden… die Leiche des Barmanns. Die Rolle Patric Seiberts ist bis in sein Verschwinden hinein durchinszeniert – wenn er von Frank Castorf schnörkellos gestrichen wird, wie um zu zeigen, dass es nichts mehr zu tun gibt für ihn und die Komödie zu Ende ist.